Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Wie Angst und Misstrauen unser Sicherheitsdenken bestimmen

von Dr. Phil. Robert Antoch (Psychoanalytiker, Mitgründer der Stiftung)

aus MAGAZIN forumZFD 2/2018

Unser menschliches Zusammenleben ist dadurch gekennzeichnet, dass wir uns alle sehr unterscheiden. Es sind die Unterschiede, die uns dazu zwingen, uns mit den damit verbundenen unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen und den daraus entstehenden Konflikten auseinanderzusetzen.
In dieser Auseinandersetzung können wir zum einen versuchen, uns miteinander über mögliche gemeinsame Lösungen zu verständigen. Wir können diese Konflikte aber auch in Konkurrenz gegeneinander austragen und es konfrontativ darauf ankommen lassen, dass der Stärkere gewinnt. Auch wenn ein solcher Sieg nur so lange hält, wie der Schwächere auch wirklich der Schwächere bleibt.
Der Austragungsmodus ‚Konfrontation‘ setzt auf den Willen zur Macht und schließt im Gegensatz zum Modus der ‚Verständigung‘ Gewaltanwendung nicht aus. Der Weg der Verständigung zielt auf eine Kooperation unter Gleichwertigen. Es bleibt eine der Schicksalsfragen im Lauf der menschlichen Entwicklung: Sichern wir uns gegen – oder schließen wir Frieden mit den Anderen. ...

Sicherheitslogik

Wenn Menschen (oft sind es die mit einem Minderwertigkeitsgefühl) sich als die Stärkeren fühlen und genau zu wissen meinen, was richtig und falsch und was ‚gut‘ und ‚böse‘ ist, dann neigen sie in der  Austragung von Konflikten nicht selten dazu, den Modus der Konfrontation zu wählen. Sie versuchen, an der Macht zu bleiben und mit Macht dafür zu sorgen, dass alles sich so entwickelt, wie sie es sich vorstellen. Alles, was sich nicht so entwickelt, weckt dann ihr Misstrauen, macht ihnen Angst und muss deshalb bekämpft werden. Dies ist kurz und bündig der Ausgangspunkt der Sicherheitslogik, ein Begriff, der vor einigen Jahren in den politischen Diskurs eingeführt wurde.

Wie Sabine Jaberg in ihrer Darstellung der Sicherheitslogik zeigt, folgt diese Logik dem Menschenbild von Thomas Hobbes. In dieser Vorstellung ist „der Mensch dem Menschen ein Wolf“, und deshalb herrscht zwischen ihnen ein Krieg aller gegen alle“. „Der Mensch ist … durch drei Triebfedern gekennzeichnet: Verlangen, Furcht und Vernunft; keine dieser drei Komponenten bringt ihn dazu, die Gesellschaft anderer wegen etwas anderem zu erstreben, wenn diese nicht zu seinem eigenen Vorteil gereicht. Damit vertritt Hobbes einen Psychologischen Egoismus, der naturgegeben ist und willentlich nicht     überwunden werden kann“.

Dass ein Individuum, das sich von „Wölfen“ umlagert und von Feinden existenziell bedroht sieht, Angst entwickelt, ist leicht nachzuvollziehen. Es ist aber auch die grundsätzliche Einstellung, die den Einzelnen mit seiner Angst allein lässt (psychologischer Egoismus) und seinem Misstrauen Tür und Tor geöffnet hält. Wer sich dagegen schützen will, kann sich nur mit all denen, die genauso denken oder fühlen, also mit seiner Gemeinschaft, mit seinem Staat, seiner Nation gegen die Anderen, die als Nichtdazugehörige dann automatisch als seine Feinde erscheinen, zusammentun. Das große Ego bildet eine Notgemeinschaft, pflegt sich selbst und den Seinen gegenüber aber lieber das Bewusstsein, die strahlende Heldengemeinschaft zu sein, um die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen damit bannen zu können. Paradoxerweise führen aber eben diese einer vermeintlichen Vernunft folgenden Vorbeugungsmaßnahmen geradewegs zum Gegenteil dessen, was sie erreichen sollen.

Friedenslogik

So wie die Sicherheitslogik einem Menschenbild bzw. einer Mentalität folgt, aus der heraus Menschen in der beschriebenen Art und Weise Konflikte verhindern und, wenn das nicht gelingt, wenigstens die  Austragung von Konflikten allein beherrschen wollen, so stehen ihnen in der Friedenslogik Menschen gegenüber, für die Konflikte alltäglich und nicht unbedingt ein Übel (ja, vielleicht sogar eine Chance) darstellen. Menschen, die die Andersartigkeit eines jeden Gegenübers erkennen, wahrnehmen, annehmen und anerkennen, gehen von vornherein davon aus, nicht mit allen anderen in ihren Interessen und Bedürfnissen übereinzustimmen. Damit nähren sie aber nicht ihre Angst, ihren Hass und ihre Feindseligkeit. Wenn sie dann auch nicht ihre Macht ausspielen, um das Recht des Stärkeren durchzusetzen und auf den Einsatz von Gewalt verzichten, folgen sie der Logik ihrer Vorstellungen von Menschen und fühlen sich dem Frieden als Chance verpflichtet. So öffnet die Friedenslogik Menschen den Weg, sich mit den Bedürfnissen, Meinungen und Interessen der anderen Menschen auseinanderzusetzen und sich mit ihnen zu verständigen. 

Sicherheit oder Frieden?

Natürlich geht es, wenn von Frieden die Rede ist, auch um eine Art Sicherheit, aber eben nicht um die pure Sicherung der Interessen nur einer Seite wie in der Sicherheitslogik, sondern um die Sicherheit und den Schutz des Zusammenlebens beider Parteien. Also um eine Sicherheit, die den Namen Frieden verdient, weil ihr Sinn darin liegt, dass die beiden Konfliktparteien sich gegenseitig nicht mehr verdächtigen, in Schach halten und mit Gewalt und Krieg bedrohen müssen. Dabei werden vor allem folgende fatale Vorstellungen vermieden:

  • Die Schuld an dem Konflikt liegt auf der Gegenseite – die andern sind die Angreifer (im heutigen Sprachgebrauch heißen diese bösen Feinde immer Terroristen, im 20. Jahrhundert hießen sie zumeist Kommunisten, im 19. Jahrhundert Demokraten), denn wir, das sind die Verteidiger von Recht und Ordnung.
  • Das Bild des Gegners als Feind muss erhalten bleiben und gepflegt werden, denn Feindbilder schließen die Reihen im eigenen Lager und lenken von Missständen im Eigenen ab.
  • Es gibt nur eine richtige und gerechte Lösung des Konflikts, nämlich die unsrige.
  • Bei der Herbeiführung der gerechten Lösung sind alle Mittel erlaubt (auch Gewalt – denn unsere Gewalt ist dann ja auch nur Gegengewalt)
  • Verhandlungen mit der Gegenseite sind aus allen diesen Gründen ausgeschlossen.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Menschenbildern und den mit ihnen verbundenen Logiken läuft darauf hinaus, dass in der Sicherheitslogik mit fertigen Bildern vom Menschen, von gut und böse und von gerechten Lösungen der konflikthaften Interessengegensätze ausgegangen wird. In der Friedenlogik hingegen müssen solche Lösungen erst gesucht, gefunden und vereinbart werden. Dazu eignen sich Verhandlungen, die freilich nur dann sinnvoll ablaufen können, wenn die Parteien sich nicht als Feinde begegnen, die in Angst und Misstrauen voreinander erstarrt sind, sondern sich wirklich darum bemühen, miteinander ins Gespräch zu kommen und zu verständigen.

Gütekraft

Um auf diese Weise aus der Sicherheitslogik auszusteigen, wäre es also nötig, einen Weg zu finden, sich aus dem Panzer des Misstrauens und der Angst zu lösen. Ein solches Konzept hat in der Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen des gewaltfreien Umgangs mit Konflikten vor einigen Jahren Martin Arnold entwickelt. Es ging ihm dabei nicht nur um Wege und Methoden der gewaltfreien Austragung selbst, sondern um die Menschenbilder, mit denen die Konfliktparteien sich begegnen. Durch die Untersuchung der Haltungen verschiedener Protagonistinnen und Protagonisten des Friedens gelangte er zu der Erkenntnis, dass es wichtig ist, im Prozess der Konfliktbearbeitung aus dem Bewusstsein der eignen Kraft zum Guten zu allererst die eigenen Ängste und das eigene Misstrauen zu überwinden. Dies könne dazu beitragen, auch dem Gegner seine Angst zu nehmen und dadurch das eigene sowie das seines Gegenübers bestehende Feindbild zu relativieren oder gar zu besänftigen. Dabei sieht Arnold auf beiden Seiten eine Kraft am Werk, die er ‚Gütekraft‘ nennt, eine Kraft, die gewaltsame Auseinandersetzungen dadurch verhindert, dass sie den Beteiligten dabei hilft, sich zu entängstigen, zu entfeinden und den Mut für ein friedliches Miteinander zu gewinnen.

Frieden als das große Wagnis

Von Dietrich Bonhoeffer sind (schon aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg) folgende Feststellung überliefert:

Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wieder Krieg“.

Wenn wir bei unseren Bemühungen um Sicherheit und Frieden also statt des Weges der Konfrontation, der die waffengestützte Gewalt nicht ausschließt, den Weg der Verständigung und das Ziel eines von beiden Seiten her angestrebten Friedensschlusses wählen, können wir den Weg der Menschheitsentwicklung wohl ein Stück weit positiv mitbestimmen. Aus einer Sicherheit nur für die Stärkeren wäre so ein Frieden für alle zu gestalten (also eine Sicherheit, an der die Schwächeren Anteil haben). Doch der Versuch, die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung auszuschließen, bedarf immer der beidseitigen Anerkennung aller Unterschiedlichkeit sowie der Verständigung darüber. Insofern bleibt der Weg der Friedenslogik ein Wagnis.

Nur die Absage an die Angst, an das Misstrauen und an die Gewalt öffnet den Weg zu der mutigen Entschlossenheit, das Friedens-Wagnis einzugehen, zu dem es für den, der Frieden will, keine Alternative gibt. Das Vertrauen auf eine solche Kraft in allen Menschen, also sowohl in uns wie auch in unseren  Gegnern, nährt die Hoffnung, das Wagnis einzugehen, das Frieden heißt. Dieser Weg ist niemals gesichert – die Sicherung muss gelebt werden. Das erfordert Mut und die Überzeugung, dass es dazu keine Alternative gibt, wenn  ein wahrhaftiger Frieden, der alle einschließt, erreicht werden soll.

Insofern führt uns der Leitspruch ‚Entschieden für Frieden‘ nirgendwo anders hin als dazu, unseren ganzen Mut zusammenzunehmen und auf die Illusion einer Sicherheitsgarantie zu verzichten. Sind wir nicht gut beraten, uns auf ein Leben in einer friedlichen Zukunft zu verständigen, statt unseren Status quo mit Todesdrohungen zu sichern?